Leopold
Ziegler schrieb 1934 über René Guénon: „Guénons Werk, heute schon gleich
bedeutsam an Umfang und Gewicht, zielt in eine Zukunft, die mit der
abendländischen Vergangenheit dieser letzten sechs bis sieben Jahrhunderte
aus Grundsatz gebrochen haben wird ... Es ist der Begriff der „integralen
Tradition“, der in der Mitte seines Schaffens steht.“ 1)
Anläßlich von Guénons Tod schrieb Ziegler 1951: „ ... bietet Guénon gegen
den Geschehensablauf sinkenden Knotens ... die einzige Gegenkraft auf, die
noch Rettung verheißen könnte.“ 2) Zieglers Initiative ist im
deutschen Sprachraum isoliert geblieben: Guénons Bekanntheitsgrad ist sehr
gering, nur vier Werke sind in das Deutsche übertragen.
Von den in dieser Arbeit
zitierten Werken Guénons liegen drei in deutscher Sprache vor. Die
Übersetzung von „Le Roi du Monde“ wurde vom Verfasser durchgängig wörtlich
übernommen, die Übersetzungen von „Les États Multiples de l’Être“ und „Le
Symbolisme de la Croix“ wurden manchmal übernommen, manchmal verändert,
manchmal wurde der Text völlig neu übersetzt.
Die
pointierte Formulierung des Titels „René Guénon – die Metaphysik“ ist
beabsichtigt. In einem Gedenkband anläßlich des hundertsten Geburtstages
Guénons 1986 3) sind fünf Pole aufgelistet, um die sich sein
Werk versammelt: Kritik der modernen Welt, Tradition, Metaphysik,
Symbolik, Spirituelle Verwirklichung.
Unleugbar
sind das die wichtigen Themen, die Metaphysik steht aber nicht auf
gleicher Ebene mit den anderen, sondern ist ihre Voraussetzung. Besonders
irreführend kann die isolierende Betrachtungsweise bei der Kritik der
modernen Welt sein: Guénons darauf bezügliche Werke sind
Exemplifikationen der Zyklentheorie, die ihrerseits eine Anwendung
metaphysischer Prinzipien auf Kosmologie und Geschichtstheorie ist.
Ein von
Guénon 1925 an der Sorbonne gehaltener Vortrag „La Métaphysique Orientale“
(Die orientalische Metaphysik) 4) gibt eine geraffte
Darstellung dessen, was er unter Metaphysik versteht.
Reine
Metaphysik ist ursprünglich nichts spezifisch Orientalisches, sondern „
... wesensmäßig außerhalb und abseits aller Formen und Zufälligkeiten, sie
ist weder orientalisch noch westlich, sie ist universell.“ 5)
Aber in der Gegenwart und schon seit langem ist die Metaphysik im Westen
vergessen und nur mehr im Orient Gegenstand wirklicher Erkenntnis
geblieben.
In Indien
wird einfach das Wort „Erkenntnis“ verwendet, dem im Abendland „Gnosis“
entspräche. Das ist der Sache nach richtig, die metaphysische Erkenntnis
ist die „ ... Erkenntnis par excellence, die einzige, die absolut dieses
Namens würdig ist ...“ 6) Da der westliche Mensch aber bei
„Erkenntnis“ zunächst nur an den wissenschaftlichen und rationalen Bereich
denkt, muß am Terminus „Metaphysik“ festgehalten werden, der die Beziehung
zum Übernatürlichen ausdrückt: „... solange man nicht die Natur, das heißt
die hervorgegangene, manifest gewordene Welt (le monde manifesté) in ihrer
gesamten Ausdehnung überschreitet ..., ist man immer noch im Bereich des
Physischen. Die Metaphysik ist das ..., was jenseits und über der Natur
ist, sie ist eigentlich das „Übernatürliche“.“7)
Würde man
aber glauben, jetzt „Metaphysik“ definieren zu können, so hält Guénon
dagegen: „Nein, denn definieren ist immer begrenzen, aber das, worum es
sich handelt ist, in sich, wahrhaft und absolut unbegrenzt und läßt sich
daher in keine Formel und kein System einsperren, ... wenn Aristoteles die
Metaphysik als Erkenntnis des Seins als Sein betrachtete, identifizierte
er sie mit der Ontologie, das heißt er nahm den Teil für das Ganze. Für
die orientalische Metaphysik ist das reine Sein aber nicht das erste und
nicht das allgemeinste der Prinzipien, denn es ist schon eine Bestimmung,
man muß daher über das Sein hinausgehen und das ist sogar das, worauf es
am meisten ankommt.. ... Es geht nicht darum, mit irgendwelchen
„Abstraktionen“ umzugehen, sondern darum, eine direkte Erkenntnis der
Wahrheit wie sie ist zu erlangen. Wissenschaft ist rationale, diskursive,
immer indirekte Erkenntnis, eine Erkenntnis durch Widerspiegelung;
Metaphysik ist überrationale, intuitive und unmittelbare Erkenntnis. Diese
rein intellektuelle Intuition, ohne die es keine wahre Metaphysik gibt,
darf aber keineswegs gleichgestellt werden mit der Intuition, von der
einige zeitgenössische Philosophen sprachen, denn diese ist, im Gegenteil
unter-rational (infra-rationelle). Es gibt eine intellektuelle Intuition
und eine Intuition auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung (intuition
sensible), die eine ist jenseits des Verstandes (raison), die andere
diesseits; die letztere vermag nur die Welt des Wechsels und des Werdens
wahrzunehmen, also die Natur, genau genommen nur einen kleinen Teil der
Natur. Der Bereich der intellektuellen Intuition ist - im Gegensatz dazu -
der Bereich der ewigen, unbeweglichen Prinzipien, der metaphysische
Bereich“. 8)
Die absolute
Unbegrenztheit der Metaphysik und die Notwendigkeit, über das Sein
hinauszugehen werden ausführlich behandelt in Guénons komprimierter und
rein metaphysischer Schrift „Les États Multiples de l’Être“: „Es ist
wichtig, jeden Anschein der Systematisierung als einer mit der Natur der
metaphysischen Lehre unvereinbaren Begrenzung zu vermeiden.“ 9)
Das Unendliche (Infini) wird vom Endlosen (indéfini) unterschieden:
10) „Um dem Ausdruck „Unendliches“ seinen eigentlichen Sinn zu
erhalten darf man mit ihm nur das bezeichnen, was absolut keine Grenze hat
- unter Ausschluß alles dessen, das nur einigen besonderen Grenzen nicht
unterliegt, anderen seiner Natur nach unterworfen bleibt ... Das Endlose
geht vom Endlichen aus und ist nur dessen Ausdehnung oder Entwicklung ...
Das Unendliche ... kann keine Einschränkung zulassen, was zur
Voraussetzung hat, daß es absolut unbedingt und unbestimmt ist, denn jede
Bestimmung ist ... notwendig eine Begrenzung.“ 11)
Daraus
folgt, daß die negative Aussage des Unendlichen die einzige einigermaßen
adäquate ist „Die Negation einer Grenze ist die Negation einer Negation,
also, logisch und sogar mathematisch, eine Affirmation.. Die Idee des
Unendlichen, die affirmativste aller Ideen.. kann eben wegen ihrer
absoluten Unbedingtheit sprachlich nur negativ ausgedrückt werden.“ 12)
Die
Allmöglichkeit ist sozusagen ein Anblick der Unendlichkeit. „Da das
Unendliche ohne Teile ist, können ... innerhalb seiner keine verschiedenen
Anblicke bestehen; wir sind es, die das Unendliche unter diesem oder jenem
Anblick erfassen, weil wir es anders nicht verstehen könnten ...“ 13)
Guénon
meint, die abendländische Philosophie habe immer versucht, die
Unbegrenztheit einzuschränken - nicht erst seit Descartes. Das Sein ist
nicht unendlich, denn es fällt nicht mit der absoluten Allmöglichkeit
zusammen. „Das Sein ... umfaßt wirklich alle Möglichkeiten der
Manifestation, aber nur soweit sie sich manifestieren. Außerhalb des
Seins bleiben ... die Möglichkeiten der Nicht-Manifestation und die
Möglichkeiten der Manifestation, soweit sie sich nicht manifestieren ...
was außerhalb und jenseits des Seins ist müssen wir, in Ermangelung eines
anderen Ausdrucks, Nicht-Sein nennen. ... das Nicht-Sein ist keineswegs
das „ Nichts“, es wäre das genaue Gegenteil, wenn das „ Nichts“ ein
Gegenteil haben könnte.“ 14)
Den Ausdruck
„Nichtsein“ entnahm Guénon, seiner eigenen Angabe nach, der fernöstlichen
Lehre: man könnte sagen, das Nichtsein stehe höher als das Sein, weil es
dieses enthält. Der Zustand der Manifestation ist immer vorübergehend und
bedingt, das Nichtsein, der Zustand der Nicht-Manifestation allein ist
ewig und unbedingt. 15) Guénon weist auf eine verwandte Sicht
bei Dionysius Areopagita hin: „ ... wenn auch (der theologische
Standpunkt) sich normalerweise innerhalb der Grenzen des Seins befindet,
anerkennen doch einige, daß nur die „ negative“ Theologie genau ist und
daß Gott nur negative Attribute wirklich entsprechen.“ 16)
Metaphysik
ist über – aber keineswegs irrational, sie ist intuitiv und unmittelbar,
hat aber mit Sinneseindrücken und Emotionen ebensowenig zu tun wie mit
Abstraktionen. Sie ist rein intellektuelle Intuition.
Wenn von
Intellekt die Rede ist, müssen wir alle Assoziationen zu der Bedeutung,
die „Intellekt, Intellektualität, Intellektueller“ seit dem
18. Jahr-hundert bekommen haben, beiseite lassen. Intellekt bedeutet bei
Guénon das überindividuelle, universale Prinzip: „Der transzendente
Intellekt muß, um die allgemeinen Prinzipien direkt erfassen zu können,
selber der universellen Ordnung angehören; er ist daher keine individuelle
Fähigkeit mehr“. 17)
In schroffem
Gegensatz nicht zur christlichen, aber zur neuzeitlichen Sicht des
Menschen hebt Guénon den übermenschlichen Ursprung des Intellekts hervor:
„Der Verstand ist eine dem Menschen spezifisch eigene Fähigkeit, was aber
jenseits des Verstandes ist, ist wahrhaft „nicht-menschlich“ (non-humain),
das aber ist es, was die metaphysische Erkenntnis möglich macht, denn
diese ... ist keine menschliche Erkenntnis. Mit anderen Worten: nicht als
Mensch kann der Mensch dorthin gelangen, sondern insoweit als jenes Wesen,
das in einer seiner Stufen menschlich ist, gleichzeitig auch anderes
und mehr als ein menschliches Wesen ist.“
18)
Die paradox
klingende Formulierung, der Mensch könne nicht als Mensch zur
metaphysischen Erkenntnis gelangen, bedarf einer Erläuterung aus „Les
États Multiples de l’Être“. Das individuelle Ich nimmt in der Gesamtheit
des Seins keinen wichtigen Platz ein: unter den Zuständen der
Manifestation gibt es außer der menschlichen Individualität andere
individuelle und nichtindividuelle Zustände. „Die Zustände der
Nichtmanifestation sind keiner Form und keiner anderen Bedingung
irgendeiner Art manifestierter Existenz unterworfen. Sie sind wesensmäßig
außer-individuell; man kann sagen, daß sie das Universelle in jedem Wesen
ausmachen, dasjenige, wodurch jedes Wesen ... an sein metaphysisches und
transzendentes Prinzip angebunden ist.“ 19) Der individuelle
Zustand ist zwar der spezifisch menschliche, doch das Wesen, das diesen
Zustand besitzt, besitzt zumindest virtuell auch alle anderen Zustände.
20) Die höheren Zustände „ ... unterscheiden sich vom
menschlichen Zustand in einem Ausmaß, das kein Philosoph der westlichen
Moderne je sich hat vorstellen können ... die wir als vom menschlichen
Zustand aus als verwirklichbar für das Wesen betrachten müssen und das
sogar während seiner körperlichen und irdischen Existenz.“ 20)
Während in
den letzten Jahrhunderten ein immer höherer Wert auf das Individuum gelegt
wurde, was sich auch darin ausdrückt, daß die „Person“ im Christentum
immer mehr Züge des Individuums angenommen hat, betont Guénon: „... das
Individuum stellt in Wirklichkeit nur eine vorübergehende und zufällige
Erscheinungsform (Manifestation) des wahren Seins dar, es ist nur eine
besondere Stufe in einer endlosen (indéfinie) Menge anderer Stufen
desselben Seins, und dieses Sein ist, an sich, absolut unabhängig von
allen seinen Manifestationen. ... Das ist die grundlegende Unterscheidung
von „ Selbst“ (Soi) und „ ich“ (moi), der Persönlichkeit und der
Individualität.“ 22) In „L’Homme et son Devenir selon le
Vêdânta“ (siehe Anm. 16) erläutert Guénon diese Lehre: „Das „Selbst“ ist
das transzendente und dauernde Prinzip ... es ist als solches niemals
individualisiert ... Das „Selbst“ ist das Prinzip wodurch ... alle Stufen
des Seins existieren, ... aber dieses „Selbst“ selber ist nur durch sich,
denn in der ganzen und unteilbaren Einheit seines inneren Wesens hat es
kein äußerliches Prinzip und kann gar keines haben.“ 23)
Guénon fährt
in „La Metaphysique Orientale“ fort: „ ... die Individualität ... ist mit
der Persönlichkeit, mit der grundlegenden Mitte des Seins (centre
principiel de l'être) durch eben jenen transzendenten Intellekt verbunden,
von dem die Rede war.“ 24)
Die
theoretische Erkenntnis ist nur eine - wenn auch unbedingt notwendige -
Vorbereitung der wahren Erkenntnis. 25) Denn: „Die Behauptung
der Identifikation durch die Erkenntnis ist das Prinzip selbst der
metaphysischen Verwirklichung (réalisation métaphysique)“ 26)
Erkenntnis muß verwirklicht sein, das heißt: „Es geht darum, ... zu
erkennen was ist, und in der Weise zu erkennen, daß man selber, wirklich
und effektiv, alles das ist, was man erkennt.“ 27) Es geht um
die „... Bewußtwerdung dessen, was ist - in dauernder und unbeweglicher
Art, außerhalb jeder zeitlichen und sonstigen Aufeinanderfolge, denn alle
Stufen des Sein (états de l'être) sind, wenn man sie in ihrem Prinzip
betrachtet, in vollkommener Gleichzeitigkeit in der ewigen Gegenwart.“
28)
Guénon
hämmert es seinen Lesern gleichsam ein: Die Erkenntnis ist das Mittel –
„ ... und sogar das einzige Mittel, die vollständige und endgültige
Befreiung zu erlangen ... Wir kommen immer wieder auf diese Verwirklichung
durch Erkenntnis zurück, weil sie den modernen westlichen Vorstellungen
völlig fremd ist ... Es kann keine wahre Metaphysik für den geben, der
nicht begreift, daß das Wesen sich durch die Erkenntnis verwirklicht und
sich nur auf diese Weise verwirklichen kann.“ 29)
Ich darf auf
den Anfang meiner Ausführungen verweisen: die Metaphysik darf nicht als
ein Element unter anderen, sondern muß als dasjenige gesehen werden, aus
dem alle anderen hervorgehen. Spirituelle Verwirklichung besteht im
Erlangen metaphysischer Erkenntnis, wodurch der Mensch gleichsam in die
Metaphysik transformiert wird.
Unabdingbare
Voraussetzung für diese Transformation ist neben der theoretischen
Vorbereitung die Konzentration, die den Rückzug aus der Vielfalt in die
Einheit einleitet.
Guénon
beschreibt die Etappen der metaphysischen Verwirklichung: „Die erste ...
besteht in einer endlosen Ausdehnung der Individualität, deren körperliche
Modalität, die einzige, die beim gewöhnlichen Menschen ausgebildet ist,
nur einen minimalen Teil darstellt“. 30) Ziel des Erlangens
einer vollständigen Individualität (individualité intégrale) ist das
Erreichen des ursprünglichen menschlichen Zustandes, des „état primordial“,
der, wenngleich noch in keiner Weise überindividuell (supraindividuel),
doch von der Zeit befreit ist, und „ ... bewußt eine Fähigkeit besitzt,
die dem gewöhnlichen Menschen ganz unbekannt ist, die man den „Sinn der
Ewigkeit“ nennen kann.“ 31)
Im Prinzip
betrachtet sind alle Stufen des Seins gleichzeitig, der Sinn der Ewigkeit
vermittelt den Einstieg in diese Einsicht: „ ... wer nicht imstande ist
sich freizumachen vom Gesichtspunkt der zeitlichen Aufeinanderfolge und
alle Dinge simultan anzuschauen, der ist unfähig zu irgendeiner
Vorstellung der metaphysischen Ordnung.“ 32)
Auf der
zweiten Stufe der metaphysischen Verwirklichung, der überindividuellen,
aber noch bedingten, ist die Welt der Formen im weitesten Sinn, die alle
individuellen Stufen umfaßt, überschritten. Aber: „Wie weit auch diese
Stufen über der menschlichen Stufe sein mögen, ... ihr Besitz ... darf
nicht mit dem letzten Ziel der metaphysischen Verwirklichung verwechselt
werden: ... der absolut bedingungsfreien Stufe, die von jeder Begrenzung
befreit ist ... Die Erlangung dieser Stufe ist, was die Hindu-Lehre die
„Befreiung“ („Délivrance“) nennt ...“ 33)
Auf dieser
Stufe ist keine Vernichtung, sondern der höchste Grad von Erfüllung: „ ...
weit entfernt davon eine Art von Vernichtung (anéantissement) zu sein ...
ist diese Endstufe im Gegenteil die absolute Fülle, die höchste Realität,
der gegenüber alles Übrige nur Illusion ist.“ 34)
Infolge des
überzeitlichen Charakters der Metaphysik ist der Zugang zu ihr
grundsätzlich immer möglich: „Metaphysische Erkenntnis und die
Verwirklichung, die sie impliziert ... sind daher zumindest im Prinzip
überall und immer möglich.“ 35) Hinsichtlich der praktischen
Durchführbarkeit in der Gegenwart war Guénon skeptischer: „Es kann
spezifisch ungünstige Bedingungen geben, wie sie etwa die westliche Welt
der Gegenwart bietet, so ungünstige, daß eine solche Arbeit fast unmöglich
ist ...“ 36) Hingegen sind traditionelle Kulturen so
strukturiert, daß sie auch institutionell auf den spirituellen Weg
hinweisen: „ ... die Zivilisationen, die wir traditionell nennen, sind so
eingerichtet, daß man dort wirksame Hilfe finden kann, die zweifellos
ebensowenig strikt unabdingbar ist, wie alles andere, was äußerlich ist,
ohne die es aber doch schwierig ist, effektive Resultate zu bekommen.“
37)
Symbolik
Schon in
seinem frühesten Buch „Introduction Générale à l’Étude des Doctrines
Hindoues“ (Allgemeine Einführung in das Studium der indischen Lehren)
bezeichnet Guénon die Symbolik als „ ... metaphysische Sprache par
excellence“. 38) Er versteht unter Symbol jede formgebundene
Ausdrucksweise einer Lehre - verbaler, figurativer oder sonorer Art. Da
die menschliche Natur nicht rein intellektueller Beschaffenheit ist,
bedarf sie einer sinnlichen Unterstützung, um sich in höhere Bereiche
erheben zu können, eine reine Intelligenz würde keine äußerliche Form
brauchen.
Guénon
bezieht Sprache und Symbol aufeinander und hebt sie voneinander ab: „Im
Allgemeinen ist die Form der Sprache analytisch, „diskursiv“, wie die
menschliche Vernunft, ... der Symbolismus ... ist wesensmäßig synthetisch
und ... intuitiv ... was ihn für die Unterstützung der „intellektuellen
Intuition“ geeigneter macht als die Sprache.“ 39) Wenn man
Sprache und Symbol vergleicht, so liegt die Überlegenheit eher auf seiten
des Symbols: „ ... das wirklich unbegrenzte Möglichkeiten der Vorstellung
eröffnet, während die Sprache, deren Bedeutungen eher definiert und
gehemmt sind, dem Verständnis mehr oder weniger enge Grenzen zieht ... die
höchsten Wahrheiten, die auf keine andere Art mitteilbar oder übertragbar
wären, werden es bis zu einem gewissen Grad, wenn sie ... in Symbole
einverleibt sind, die sie zwar für viele verbergen werden, aber die sie in
ihrem ganzen Glanz in den Augen jener erscheinen lassen werden, die zu
sehen vermögen.“ 40)
Grundlage
der Symbolik ist die Entsprechung (correspondance), die zwischen allen
Bereichen der Realität (den Stufen des Seins und den Zuständen des Wesens)
besteht. Die Ordnung des Kosmos ist ein Symbol der übernatürlichen
Ordnung. 41)
Wie die
Metaphysik ist auch der Symbolismus göttlichen Ursprungs: „ ... die ganze
Natur kann als ein Symbol der übernatürlichen Wirklichkeit genommen werden
... Das Niedrigere kann das Höhere symbolisieren, aber das Umgekehrte ist
unmöglich.“ 42)
Das Kreuz
ist ein archaisches Symbol, das fast überall vorkommt. Die Mehrzahl
traditioneller Lehren symbolisieren die Verwirklichung des Allmenschen
durch das Zeichen des Kreuzes. 43)
Der
Allmensch verkörpert die Analogie zwischen der universalen Manifestation
und ihrer menschlich-individuellen Modalität, zwischen dem Makrokosmos und
dem Mikrokosmos. 44)
Die
horizontale Achse des Kreuzes repräsentiert die Ausdehnung der
Individualität als Grundlage der Verwirklichung, während die vertikale
Achse die endlose Hierarchie der Seinsstufen darstellt. 45)
Der volle
kosmologische und metaphysische Sinn des Kreuzsymbols wird offenbar im
dreidimensionalen Kreuz, welches Guénon in der Sprache der astronomischen
Symbolik so beschreibt: „ ... es ist einerseits die Ebene des (Himmels-)
Äquators und die Achse, welche die Pole verbindet und senkrecht zu dieser
Ebene steht und andererseits sind es die zwei Verbindungslinien zwischen
den beiden Solstitialpunkten und den beiden Äquinoktialpunkten – im
ersten Fall haben wir ... das vertikale Kreuz, im zweiten Fall das
horizontale Kreuz. Die Gesamtheit dieser beiden Kreuze, die das gleiche
Zentrum haben, bildet das dreidimensionale Kreuz. Seine Arme gehen in die
sechs Richtungen des Raumes.“ 46) Diese Richtungen entsprechen
den sechs Kardinalpunkten (Solstitialpunkte, Äquinoktialpunkte, Zenith und
Nadir), zusammen mit dem Zentrum ergibt sich die Siebenzahl. 47)
Diesen sieben Gegenden des Raumes entsprechen sieben zeitliche Kreisläufe.
Der siebente ist die Phase der Rückkehr zum Urpunkt, dem Mittelpunkt. Für
diese Phasen verwendet Guénon aus der indischen Überlieferung die
Bezeichnung Manvantara. Jedes Manvantara ist in vier Yugas eingeteilt.
48) Die Kreisläufe entsprechen den Stufen des Seins, jeder
sekundäre Zyklus wiederholt auf niedrigerer Stufe die entsprechenden
Phasen des Größeren, dem er untergeordnet ist. 49)
Diese
Entsprechungen kennt auch das frühe Christentum. Nach Clemens Alexandrinus
gehen von Gott als dem Herzen des Universums die endlosen Ausdehnungen
aus: die eine richtet sich nach oben, die andere nach unten, diese nach
rechts, jene nach links, die eine nach vorne, die andere nach hinten: „
... in ihm (Gott) vollenden sich die sechs Phasen der Zeit und von ihm
empfangen sie ihre endlose Ausdehnung: das ist das Geheimnis der Zahl
sieben.“ 50)
Das
dreidimensionale Kreuz bildet, in der Sprache der Geometrie ausgedrückt,
ein Koordinatensystem, auf das der ganze Raum bezogen werden kann; der
Raum symbolisiert hier die Gesamtheit aller Möglichkeiten, sowohl eines
jeden einzelnen Wesens, wie der ganzen Welt. „Dieses System wird von drei
Achsen gebildet, eine vertikal und die zwei anderen horizontal, die drei
rechtwinkelige Durchmesser einer endlosen Kugel sind und die ... als auf
die sechs Kardinalpunkte ausgerichtet betrachtet werden können.“ 51)
Um die Idee
der Ganzheit zu versinnbildlichen muß die Kugel „ ... endlos sein wie die
Achsen, die das Kreuz bilden und die drei rechtwinkelige Durchmesser
dieser Kugel sind; ... die Kugel wird aufgebaut durch die Ausstrahlung
ihres Zentrums und schließt sich nie.“ 52)
Innerhalb
dieses Koordinatensystems erfolgt der Sprung des Menschen in die
Befreiung. „Um sich vollständig zu verwirklichen, muß das Wesen sich von
der Kette der Kreisläufe befreien und von der Peripherie in das Zentrum
gelangen, in den Punkt, in dem die senkrechte Achse auf den horizontalen
Plan trifft, auf den Zustand, in dem dieses Wesen sich gegenwärtig
befindet ... zwischen allen Stufen des Seins, betrachtet in ihrem
zyklischen Lauf, besteht Kontinuität: im Gegensatz dazu bedeutet es eine
Unterbrechung in der Entwicklung eines Wesens, wenn es das Zentrum
erreicht.“ 53) Diese unveränderliche Mitte ist der feste,
unwandelbare Punkt, der die Bewegung antreibt, ohne sich an ihr zu
beteiligen.
In der
christlichen Tradition ist das Kreuz exoterisch das wichtigste Symbol,
aber auch hier ist die metaphysische und archaische Symbolik grundlegend.
„Das Kreuz Christi nimmt immer den zentralen Platz ein, der dem
„Lebensbaum“ zukommt; wenn es zwischen Sonne und Mond gestellt wird, wie
man es oft auf alten Abbildungen sieht, ... ist es wahrhaft die „Achse der
Welt“.“ 54)
Die Aussage
des Evangeliums, Christus als Wort sei in Bezug auf uns der Weg, die
Wahrheit und das Leben (Joh., 14, 6), ist im dreidimensionalen Kreuz
ausgedrückt. Der Weg wird durch die vertikale Achse dargestellt. Von den
beiden horizontalen Achsen versinnbildlicht die eine die Wahrheit, die
andere das Leben. Während der Weg sich auf den Allmenschen bezieht,
bezieht sich die Wahrheit hier auf den geistigen und das Leben auf den
körperlichen Menschen (die letztgenannte Bezeichnung kann auch eine
gewisse Sinnverschiebung erfahren). Der geistige und der körperliche
Mensch gehören beide derselben Daseinsstufe an, der erste als vollständige
Individualität, der zweite als eine Modalität derselben. 55)
Tradition
Guénons
Schrift „Le Roi du Monde“ (Der König der Welt) – eine seiner bekannteren
und leichter zugänglichen - ist Darlegung der integralen Tradition und
Anwendung metaphysischer Prinzipien auf Kosmologie und Geschichtstheorie.
„König der Welt“ bedeutet vor jeder geschichtlichen Lokalisierung „ ...
ein Prinzip, die kosmische Intelligenz ... (das) sich in einem geistigen,
in der irdischen Welt bestehenden Zentrum manifestieren kann, in einer
Organisation, deren Aufgabe es ist, die geistige, in ihrem Ursprung nicht
menschliche Tradition unversehrt zu bewahren.“ 56) „Die Mitte,
um die es sich handelt, ist der feste Punkt, den alle Überlieferungen
übereinstimmend symbolisch den „Pol“ nennen, da sich um ihn die
Kreisbewegung der Welt vollzieht ...“ 57)
In der
Geschichte steht der König der Welt für den ursprünglichen Zustand der
Einheit von Priester und König, den in der christlichen Überlieferung
Melchisedek und die drei Magierkönige repräsentieren. Die Teilung der
Funktionen in Papsttum und Kaiserreich ist „ ... Zeichen einer ... von
oben her unvollkommenen Gestaltung.“ 58)
Guénon
versteht Tradition als metaphysische, universelle und esoterische
Überlieferung: „ ... wenn man überall solche Übereinstimmungen findet, ist
das nicht mehr als ein einfacher Anhaltspunkt für die Existenz einer
Urtradition? (tradition primordiale) ... Im Übrigen genügt es, ein wenig
zu suchen ... um von allen Seiten die Spuren dieser wesentlichen Einheit
der Lehre zu entdecken, deren Bewußtsein sich manchmal in der Menschheit
verdunkeln konnte, aber niemals gänzlich verschwunden ist.“ 59)
Er läßt
keinen Zweifel daran, daß das Kriterium für die Bezeichnung Tradition der
Bezug auf das Übernatürliche, Metaphysische ist und eine nur menschliche
Überlieferung nicht Tradition genannt werden darf: „Es gibt nichts
wahrhaft Traditionelles und es kann es auch gar nicht geben, das nicht ein
Element aus der Ordnung des Übermenschlichen mit einbegreift. Das ist in
der Tat der wesentliche Punkt, der die Definition von Tradition ausmacht
und alles dessen, was sich daran anschließt.“ 60)
Die für
Guénons Auffassung der Tradition sehr wichtige Unterscheidung von Esoterik
und Exoterik findet sich schon in seinem 1925 erschienenen Werk „Introduction
Générale à l'Étude des Doctrines Hindoues“. Wir müssen zu „Esoterik“ alle
Assoziationen abstoßen, die sich auf Grund des zeitgenössischen Mißbrauchs
dieses Begriffes etwa durch die New Age Bewegung einstellen. Guénon geht
von der griechischen Antike aus: „Die Exoterik beinhaltet das Elementare,
leichter Verständliche ... (und) findet ihren Ausdruck nur in der
schriftlichen Lehre, ... die Esoterik, vertiefter und einer gehobenen
Ordnung angehörend ... war ausschließlich Gegenstand mündlicher
Unterweisung ... (es handelt sich aber) um die gleiche Lehre unter zwei
verschiedenen Aspekten.“ 61) In jeder metaphysischen Doktrin
gibt es etwas, das immer esoterisch bleibt, „ ... der Teil des
Unausdrückbaren, ... den jede wahrhaft metaphysische Konzeption enthält.“
62) Von den großen Traditionen ist die indische diejenige bei
der es „ ... am wenigsten möglich ist, eine Unterscheidung wie die
zwischen Esoterik und Exoterik ins Auge zu fassen, weil die Tradition dort
zuviel Einheit hat... Die einzige Unterscheidung, die man dort treffen
kann, ist die zwischen der wesentlichen Lehre, die zur Gänze Metaphysik
ist, und ihren Anwendungen ...“ 63)
Der
Unterscheidung Exoterik - Esoterik entspricht bei Guénon die
Unterscheidung Religion - Metaphysik: Religion, der jedem zugängliche Weg
der kultischen Verehrung, führt zum Heil (salut), Metaphysik führt durch
die Identifikation mit der Gottheit zu Befreiung (Délivrance). 64)
Spirituelle
Verwirklichung, Initiation
Ich darf Sie
daran erinnern, daß Guénon in „La Métaphysique Orientale“ die
„Identifikation durch die Erkenntnis ..." als Prinzip jeder metaphysischen
Verwirklichung bezeichnet hatte.65) Während Guénon bis etwa
1930 nicht viel über Initiation geschrieben hatte, insistierte er von
diesem Zeitpunkt an, nicht auf einer prinzipiellen, wohl aber auf der
faktischen Notwendigkeit: „... die Notwendigkeit des initiatischen
Anschlusses (d.h. des Anschlusses an eine initiatische Kette. Der
Übersetzer) ist keine prinzipielle, sondern nur eine faktische
Notwendigkeit, die sich aber nichtsdestoweniger streng auferlegt auf der
Stufe, auf der wir uns befinden ... für die Menschen der ursprünglichen
Zeiten wäre die Initiation unnötig und sogar unvorstellbar gewesen.“ 66) Eine Initiation nur durch Lektüre ist unmöglich: „ ... eine
mündliche Übertragung wird überall und immer als eine notwendige Bedingung
wahrer traditionaler Unterweisung angesehen ... und das, weil die
Übertragung, um wirklich gültig zu sein, der Übermittlung eines
gewissermaßen „vitalen“ Elementes bedarf, das Bücher nicht übertragen
können.“ 67) Die adäquate Vermittlung von Metaphysik ist direkt
von Guru oder zumindest Lehrer zu Schüler - durch die Rede oder durch
Symbole - ein ganzheitlicher, den Menschen grobstofflich, feinstofflich
und spirituell umfassender Vorgang.
Vom
spirituellen Meister meint Guénon: „... der menschliche Guru ist in
Wahrheit ... nur eine äußere Erscheinung ... des wahren, inneren Guru, so
daß seine Notwendigkeit nur daher kommt, daß der Initiierte, solange er
nicht zu einem gewissen Grad der spirituellen Entwicklung gelangt ist,
noch unfähig ist, direkt in bewußte Verbindung mit diesem zu treten.“ 68)
Kritik an
der modernen Welt
René Alleau
betitelte seinen Beitrag zur Gedenkschrift für René Guénon in den Dossiers
H (1984) „De Marx à Guénon: d’une critique radicale à une critique
principielle des sociétés modernes“ (Von Marx zu Guénon: von einer
radikalen zu einer prinzipiellen Kritik der modernen Gesellschaften).69)
Auf Grund der ins Materialistische gewendeten Hegelschen Dialektik sieht
Marx in der Gesellschaft seiner Zeit ein notwendiges Produkt des sozialen
Fortschritts und die Entfremdung als Motor der Transformation in die
klassenlose Gesellschaft; für Guénon, der an metaphysischen,
überzeitlichen Prinzipien mißt, ist das Kriterium der Normalität einer
Gesellschaft, in wie weit der Vorrang des Spirituellen gewahrt ist,
institutionell drückt sich diese Wahrung in einer Rangordnung aus, die der
Symbolik der indischen Kasten entspricht. Umsturz und Vermischung der -
wohlgemerkt immer spirituell geprägten - Rangordnung ist für Guénon der
Ausdruck zunehmender Materialisierung eines absteigenden Zyklus. Seine
Kritik der Moderne unterscheidet sich von der Postmoderne wie vom
Geschichtspessimusmus.
Im Vorwort
seiner wichtigsten Schrift zu diesem Thema „Le Règne de la Quantité et les
Signes du Temps“ (Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit)
setzt Guénon sich von jeder Kritik ab, die am Phänomenalen haftet: „...
Überlegungen dieser Art haben für uns nur insoferne Wert, als sie eine
Anwendung der Prinzipien auf besondere Umstände darstellen ... alles was
existiert, ... sogar der Irrtum hat notwendigerweise seine
Daseinsberechtigung und die Unordnung selbst muß am Ende ihren Platz unter
den Elementen der universellen Ordnung finden. Wenn also auch die moderne
Welt, für sich selbst betrachtet, eine Anomalie ist und sogar eine Art von
Monstrosität, so ist nicht weniger wahr, daß sie im gesamthistorischen
Zyklus, dessen Teil sie ist, genau den Bedingungen einer bestimmten Phase
entspricht, die die indische Tradition Kali-Yuga nennt.“ 70)
Das Kali-Yuga ist das letzte Yuga des gegenwärtigen Manvantara. Es hat
schon lange vor Christi Geburt begonnen.
Guénon
warnt vor dem Versuch der historisch festlegenden Prognose:
„... wäre es
nicht unvorsichtig, genauer präzisieren zu wollen und führte das nicht zu
dieser Art Voraussagen, denen die traditionelle Lehre, nicht ohne ernste
Gründe, soviel Widerstand entgegengesetzt hat?“ 71)
Die
sogenannte Moderne ist die Endphase des Kali-Yuga. Den Anfang der Moderne
lokalisiert Guénon schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts – mit dem
entscheidenden Ereignis der Vernichtung des Templerordens,
„... (das)
für den Westen die Unterbrechung der regelmäßigen Beziehungen zum
Mittelpunkt der Welt mit sich gebracht hat.“ 72) Es ist eine
Revolte der Kshatriyas (repräsentiert durch König Philipp den Schönen)
gegen den geistlichen Orden, der teilweise Vermittler war zwischen dem,
was im Abendland Brahmanen und Kshatriyas entsprach, teilweise in direkter
Verbindung mit der gemeinsamen Quelle der spirituellen und weltlichen
Macht stand. 73) Damit kam der charakteristische Ablauf eines
zyklischen Abstiegs in Gang: der Aufstand der jeweils niedrigeren Kaste
gegen die höhere, der mit totaler Vermischung und totaler Nivellierung
endet.
Eines der
wichtigsten Charakteristika der Moderne ist die Tendenz, alles auf den
Gesichtspunkt der Quantität zu reduzieren. Die Modernisierung des
Abendlandes, die es auch den anderen Völkern aufzwingt, beruht nur auf
materieller Überlegenheit und kommt einer Ausdehnung der Herrschaft der
Quantität gleich. Individualismus und Uniformität stehen im Gegensatz zu
Einheit. Im neuzeitlichen Christentum rückte, vom Protestantismus
eingeleitet, die Moral zunehmend anstelle der Metaphysik. Rationalismus,
Materialismus und Mechanismus führten zu dem, was Guénon die Verfestigung
(solidification) der Welt nennt. Sie ist Voraussetzung für die
Industrialisierung. Gleichzeitig wird in wachsendem Maß eine
entgegengesetzte Tendenz zur Auflösung manifest, die nur die niedrigen
Kräfte entfesseln kann, die das Werk der Unordnung und Zerstörung zu Ende
führen.74) Guénon schildert die Wechselwirkung zwischen
Materialismus und irrationaler Pseudospiritualität anhanden einiger
Zeiterscheinungen und ist besonders hart im Urteil über die Psychoanalyse:
die Lehranalyse ist eine Pseudoinitiation, die Psychoanalyse als ganze
zeigt „... eine erschreckende Ähnlichkeit mit gewissen Sakramenten des
Teufels.“ 75) Die Verwechslung des Psychischen und des
Spitituellen führt zu einer verkehrten Spiritualität, die nur die Parodie
der Spiritualität ist. 76)
Die
Geschichte folgt kosmischen Gesetzen, die Abbild der metaphysischen sind
und denen entsprechend die Rückkehr aus der Vielfalt zur Einheit erfolgen
muß: „... unter dem besonderen Gesichtspunkt dessen, was (am Ende des
Zyklus) zerstört wird, weil seine Manifestation beendet und gleichsam
erschöpft ist, ist dieses Ende natürlich katastrophal ... aber ... unter
dem Gesichtspunkt, daß die Manifestation, indem sie auf diese Art
verschwindet, in ihren Ursprung zurückgeführt wird ... erscheint dieses
Ende als eine Wiederbelebung, durch die ... alle Dinge mit einem Schlag in
ihrem Urzustand (état primordial) wiederhergestellt sind.“ 77)
René
Jean-Marie Joseph Guénon ist am 15. November 1886 in Blois als Sohn eines
Architekten geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie und
unterrichtete zeitweise an Mittelschulen. Schon früh wurde ihm die Suche
nach metaphysischen Wahrheiten und spiritueller Erfahrung zum allein
Wichtigen. Nachdem er sich in seiner Jugend neognostischen Gruppen
angeschlossen hatte, die er später ohne Einschränkung verurteilte, lebte
er jahrelang im Rahmen des Katholizismus und schrieb in katholischen
Zeitschriften, vor allem über Symbolik. Die Ablehnung von Seiten der
damals herrschenden philosophischen Schule des Neothomismus, besonders des
wachsend einflußreichen Jacques Maritain, war sicher daran beteiligt, daß
er die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Tradition innerhalb des
westlichen Christentums verloren haben dürfte.
1912 empfing Guénon – wie er
erst sehr viel später bekanntgab – die Initiation in die Sufi-Tarikat
Shadiliya, Einweihungen in indische und chinesische Lehren dürfte er schon
früher erlangt haben, darüber gibt es keine konkreten Aussagen. 1930 fuhr
er nach Kairo (seine erste Reise in den Orient), um nach Sufitexten zu
suchen. Er verließ Ägypten während der restlichen einundzwanzig Jahre
seines Lebens nicht mehr. 1934 heiratete der zum Scheich Abdel Wahid Yahia
gewordene Guénon eine erheblich jüngere Ägypterin (die Partnerin seiner
ersten, katholischen und kinderlosen Ehe war vor seiner Abreise gestorben)
und wurde viermal Vater. Sein jüngstes Kind kam erst nach Guénons Tod auf
die Welt. Die Mitarbeit an Zeitschriften, besonders den „Études
Traditionelles“ und sein umfangreicher Briefwechsel kosteten viel Zeit und
Kraft. Die postlose Zeit des zweiten Weltkrieges war für ihn erholsam –
er konnte einige Bücher fertigstellen, die er schon seit langem
vorbereitet hatte. René Guénon, der Scheich Abdel Wahid Yahya, starb
64-jährig am 7. Jänner 1951.
Erschienen
in: Paulus Wall (Hrsg.) Leopold Ziegler – Weltzerfall und Menschwerdung.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001. S.169 – 191 |