Matthias  Korger

Zieglers „Lehrer“ René Guénon  –  Die Metaphysik 

Karl Hofer, Landschaft mit Wasserrad, 1949 

 

 

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Leopold Ziegler schrieb 1934 über René Guénon: „Guénons Werk, heute schon gleich bedeutsam an Umfang und Gewicht, zielt in eine Zukunft, die mit der abendländischen Vergangenheit dieser letzten sechs bis sieben Jahrhunderte aus Grundsatz gebrochen haben wird ... Es ist der Begriff der „integralen Tradition“, der in der Mitte seines Schaffens steht.“ 1) Anläßlich von Guénons Tod schrieb Ziegler 1951: „ ... bietet Guénon gegen den Geschehensablauf sinkenden Knotens ... die einzige Gegenkraft auf, die noch Rettung verheißen könnte.“ 2) Zieglers Initiative ist im deutschen Sprachraum isoliert geblieben: Guénons Bekanntheitsgrad ist sehr gering, nur vier Werke sind in das Deutsche übertragen.

Von den in dieser Arbeit zitierten Werken Guénons liegen drei in deutscher Sprache vor. Die Übersetzung von „Le Roi du Monde“ wurde vom Verfasser durchgängig wörtlich übernommen, die Übersetzungen von „Les États Multiples de l’Être“ und „Le Symbolisme de la Croix“ wurden manchmal übernommen, manchmal verändert, manchmal wurde der Text völlig neu übersetzt.

Die pointierte Formulierung des Titels „René Guénon  –  die Metaphysik“ ist beabsichtigt. In einem Gedenkband anläßlich des hundertsten Geburtstages Guénons 1986 3) sind fünf Pole aufgelistet, um die sich sein Werk versammelt: Kritik der modernen Welt, Tradition, Metaphysik, Symbolik, Spirituelle Verwirklichung.

Unleugbar sind das die wichtigen Themen, die Metaphysik steht aber nicht auf gleicher Ebene mit den anderen, sondern ist ihre Voraussetzung. Besonders irreführend kann die isolierende Betrachtungsweise bei der Kritik  der  modernen  Welt sein: Guénons  darauf  bezügliche  Werke sind

Exemplifikationen der Zyklentheorie, die ihrerseits eine Anwendung metaphysischer Prinzipien auf Kosmologie und Geschichtstheorie ist.

Ein von Guénon 1925 an der Sorbonne gehaltener Vortrag „La Métaphysique Orientale“ (Die orientalische Metaphysik) 4) gibt eine geraffte Darstellung dessen, was er unter Metaphysik versteht.

Reine Metaphysik ist ursprünglich nichts spezifisch Orientalisches, sondern „  ... wesensmäßig außerhalb und abseits aller Formen und Zufälligkeiten, sie ist weder orientalisch noch westlich, sie ist universell.“ 5) Aber in der Gegenwart und schon seit langem ist die Metaphysik im Westen vergessen und nur mehr im Orient Gegenstand wirklicher Erkenntnis geblieben.

In Indien wird einfach das Wort „Erkenntnis“ verwendet, dem im Abendland „Gnosis“ entspräche. Das ist der Sache nach richtig, die metaphysische Erkenntnis ist die „ ... Erkenntnis par excellence, die einzige, die absolut dieses Namens würdig ist ...“ 6) Da der westliche Mensch aber bei „Erkenntnis“ zunächst nur an den wissenschaftlichen und rationalen Bereich denkt, muß am Terminus „Metaphysik“ festgehalten werden, der die Beziehung zum Übernatürlichen ausdrückt: „... solange man nicht die Natur, das heißt die hervorgegangene, manifest gewordene Welt (le monde manifesté) in ihrer gesamten Ausdehnung überschreitet ..., ist man immer noch im Bereich des Physischen. Die Metaphysik ist das ..., was jenseits und über der Natur ist, sie ist eigentlich das „Übernatürliche“.“7)

Würde man aber glauben, jetzt „Metaphysik“ definieren zu können, so hält Guénon dagegen: „Nein, denn definieren ist immer begrenzen, aber das, worum es sich handelt ist, in sich, wahrhaft und absolut unbegrenzt und läßt sich daher in keine Formel und kein System einsperren, ... wenn Aristoteles die Metaphysik als Erkenntnis des Seins als Sein betrachtete, identifizierte er sie mit der Ontologie, das heißt er nahm den Teil für das Ganze. Für die orientalische Metaphysik ist das reine Sein aber nicht das erste und nicht das allgemeinste der Prinzipien, denn es ist schon eine Bestimmung, man muß daher über das Sein hinausgehen und das ist sogar das, worauf es am meisten ankommt.. ... Es geht nicht darum, mit irgendwelchen „Abstraktionen“ umzugehen, sondern darum, eine direkte Erkenntnis der Wahrheit wie sie ist zu erlangen. Wissenschaft ist rationale, diskursive, immer indirekte Erkenntnis, eine Erkenntnis durch Widerspiegelung; Metaphysik ist überrationale, intuitive und unmittelbare Erkenntnis. Diese rein intellektuelle Intuition, ohne die es keine wahre Metaphysik gibt, darf aber keineswegs gleichgestellt werden mit der Intuition, von der einige zeitgenössische Philosophen sprachen, denn diese ist, im Gegenteil unter-rational (infra-rationelle). Es gibt eine intellektuelle Intuition und eine Intuition auf Grund der sinnlichen Wahrnehmung (intuition sensible), die eine ist jenseits des Verstandes (raison), die andere diesseits; die letztere vermag nur die Welt des Wechsels und des Werdens wahrzunehmen, also die Natur, genau genommen nur einen kleinen Teil der Natur. Der Bereich der intellektuellen Intuition ist - im Gegensatz dazu - der Bereich der ewigen, unbeweglichen Prinzipien, der metaphysische Bereich“. 8)

Die absolute Unbegrenztheit der Metaphysik und die Notwendigkeit, über das Sein hinauszugehen werden ausführlich behandelt in Guénons komprimierter und rein metaphysischer Schrift „Les États Multiples de l’Être“: „Es ist wichtig, jeden Anschein  der Systematisierung als einer mit der Natur der metaphysischen Lehre unvereinbaren Begrenzung zu vermeiden.“ 9) Das Unendliche (Infini) wird vom Endlosen (indéfini) unterschieden: 10) „Um dem Ausdruck „Unendliches“ seinen eigentlichen Sinn zu erhalten darf man mit ihm nur das bezeichnen, was absolut keine Grenze hat - unter Ausschluß alles dessen, das nur einigen besonderen Grenzen nicht unterliegt, anderen seiner Natur nach unterworfen bleibt ... Das Endlose geht vom Endlichen  aus und ist nur dessen Ausdehnung oder Entwicklung ... Das Unendliche ... kann keine Einschränkung zulassen, was zur Voraussetzung hat, daß es absolut unbedingt und unbestimmt ist, denn jede Bestimmung ist ... notwendig eine Begrenzung.“ 11)

Daraus folgt, daß die negative Aussage des Unendlichen die einzige einigermaßen adäquate ist „Die  Negation einer Grenze ist die Negation einer Negation, also, logisch und sogar mathematisch, eine Affirmation.. Die Idee des Unendlichen, die affirmativste aller Ideen.. kann eben wegen ihrer absoluten Unbedingtheit sprachlich nur negativ ausgedrückt werden.“ 12)

Die Allmöglichkeit ist sozusagen ein Anblick der Unendlichkeit. „Da das Unendliche ohne Teile ist, können ... innerhalb seiner keine verschiedenen Anblicke bestehen; wir sind es, die das Unendliche unter diesem oder jenem Anblick erfassen, weil wir es anders nicht verstehen könnten ...“ 13)

Guénon meint, die abendländische Philosophie habe immer versucht, die Unbegrenztheit einzuschränken - nicht erst seit Descartes. Das Sein ist nicht unendlich, denn es fällt nicht mit der absoluten Allmöglichkeit zusammen. „Das Sein ... umfaßt wirklich alle Möglichkeiten der Manifestation, aber nur soweit sie sich manifestieren. Außerhalb des  Seins bleiben ... die Möglichkeiten der Nicht-Manifestation und die Möglichkeiten der Manifestation, soweit sie sich nicht manifestieren ... was außerhalb und jenseits des Seins ist müssen wir, in Ermangelung eines anderen Ausdrucks, Nicht-Sein nennen. ... das Nicht-Sein ist keineswegs das „ Nichts“, es wäre das genaue Gegenteil, wenn das „ Nichts“ ein Gegenteil haben könnte.“ 14)

Den Ausdruck „Nichtsein“ entnahm Guénon, seiner eigenen Angabe nach, der fernöstlichen Lehre: man könnte sagen, das Nichtsein stehe höher als das Sein, weil es dieses enthält. Der Zustand der Manifestation ist immer vorübergehend und bedingt, das Nichtsein, der Zustand der Nicht-Manifestation allein ist ewig und unbedingt. 15)  Guénon weist auf eine verwandte Sicht bei Dionysius Areopagita hin: „ ... wenn auch (der theologische Standpunkt) sich normalerweise innerhalb der Grenzen des Seins befindet, anerkennen doch einige, daß nur die „ negative“ Theologie genau ist und daß Gott nur negative Attribute wirklich entsprechen.“ 16)

Metaphysik ist über  –  aber keineswegs irrational, sie ist intuitiv und unmittelbar, hat aber mit Sinneseindrücken und Emotionen ebensowenig zu tun wie mit Abstraktionen. Sie ist rein intellektuelle Intuition.

Wenn von Intellekt die Rede ist, müssen wir alle Assoziationen zu  der Bedeutung, die „Intellekt, Intellektualität, Intellektueller“ seit dem 18. Jahr-hundert  bekommen haben, beiseite lassen. Intellekt bedeutet bei Guénon das überindividuelle, universale Prinzip: „Der transzendente Intellekt muß, um die allgemeinen Prinzipien direkt erfassen zu können, selber der universellen Ordnung angehören; er ist daher keine individuelle Fähigkeit mehr“. 17)

In schroffem Gegensatz nicht zur christlichen, aber zur neuzeitlichen Sicht des Menschen hebt Guénon den übermenschlichen Ursprung des Intellekts hervor: „Der Verstand ist eine dem Menschen spezifisch eigene Fähigkeit, was aber jenseits des Verstandes ist, ist wahrhaft „nicht-menschlich“ (non-humain), das aber ist es, was die metaphysische Erkenntnis möglich macht, denn diese ... ist keine menschliche Erkenntnis. Mit anderen Worten: nicht als Mensch kann der Mensch dorthin gelangen, sondern insoweit als jenes Wesen, das in einer seiner Stufen menschlich ist,  gleichzeitig auch anderes  und  mehr  als  ein  menschliches  Wesen ist.“ 18)

Die paradox klingende Formulierung, der Mensch könne nicht als Mensch zur metaphysischen Erkenntnis gelangen, bedarf einer Erläuterung aus „Les États Multiples de l’Être“. Das individuelle Ich nimmt in der Gesamtheit des Seins keinen wichtigen Platz ein: unter den Zuständen der Manifestation gibt es außer der menschlichen Individualität andere individuelle und nichtindividuelle Zustände. „Die Zustände der Nichtmanifestation sind keiner Form und keiner anderen Bedingung irgendeiner Art manifestierter Existenz unterworfen. Sie sind wesensmäßig außer-individuell; man kann sagen, daß sie das Universelle in jedem Wesen ausmachen, dasjenige, wodurch jedes Wesen ... an sein metaphysisches und transzendentes Prinzip angebunden ist.“ 19) Der individuelle Zustand ist zwar der spezifisch menschliche, doch das Wesen, das diesen Zustand besitzt, besitzt zumindest virtuell auch alle anderen Zustände. 20) Die höheren Zustände „ ... unterscheiden sich vom menschlichen Zustand in einem Ausmaß, das kein Philosoph der westlichen Moderne je sich hat vorstellen können ... die wir als vom menschlichen Zustand aus als verwirklichbar für das Wesen betrachten müssen und das sogar während seiner körperlichen und irdischen Existenz.“ 20)

Während in den letzten Jahrhunderten ein immer höherer Wert auf das Individuum gelegt wurde, was sich auch darin ausdrückt, daß die „Person“ im Christentum immer mehr Züge des Individuums angenommen hat, betont Guénon: „... das Individuum stellt in Wirklichkeit nur eine vorübergehende und zufällige Erscheinungsform (Manifestation) des wahren Seins dar, es ist nur eine besondere Stufe in einer endlosen (indéfinie) Menge anderer Stufen desselben Seins, und dieses Sein ist, an sich, absolut unabhängig von allen seinen Manifestationen. ... Das ist die grundlegende Unterscheidung von „ Selbst“ (Soi) und „ ich“ (moi), der Persönlichkeit und der Individualität.“ 22) In „L’Homme et son Devenir selon le Vêdânta“ (siehe Anm. 16) erläutert Guénon diese Lehre: „Das „Selbst“ ist das transzendente und dauernde Prinzip ... es ist als solches niemals individualisiert ... Das „Selbst“ ist das Prinzip wodurch ... alle Stufen des Seins existieren, ... aber dieses „Selbst“ selber ist nur durch sich, denn in der ganzen und unteilbaren Einheit seines inneren Wesens hat es kein äußerliches Prinzip und kann gar keines haben.“ 23)

Guénon fährt in „La Metaphysique Orientale“ fort: „ ... die Individualität ... ist mit der Persönlichkeit, mit der grundlegenden Mitte des Seins (centre principiel de l'être) durch eben jenen transzendenten Intellekt verbunden, von dem die Rede war.“ 24)

Die theoretische Erkenntnis ist nur eine - wenn auch unbedingt notwendige - Vorbereitung der wahren Erkenntnis. 25) Denn: „Die Behauptung der Identifikation durch die Erkenntnis ist das Prinzip selbst der metaphysischen Verwirklichung (réalisation métaphysique)“ 26) Erkenntnis muß verwirklicht sein, das heißt: „Es geht darum, ... zu erkennen was ist, und in der Weise zu erkennen, daß man selber, wirklich und effektiv, alles das ist, was man erkennt.“ 27) Es geht um die „... Bewußtwerdung dessen, was ist - in dauernder und unbeweglicher Art, außerhalb jeder zeitlichen und sonstigen Aufeinanderfolge, denn alle Stufen des Sein (états de l'être) sind, wenn man sie in ihrem Prinzip betrachtet, in vollkommener Gleichzeitigkeit in der ewigen Gegenwart.“ 28)

Guénon hämmert es seinen Lesern gleichsam ein: Die Erkenntnis ist das Mittel  –  „ ... und sogar das einzige Mittel, die vollständige und endgültige Befreiung zu erlangen ... Wir kommen immer wieder auf diese Verwirklichung durch Erkenntnis zurück, weil sie den modernen westlichen Vorstellungen völlig fremd ist ... Es kann keine wahre Metaphysik für den geben, der nicht begreift, daß das Wesen sich durch die Erkenntnis verwirklicht und sich nur auf diese Weise verwirklichen kann.“ 29)

Ich darf auf den Anfang meiner Ausführungen verweisen: die Metaphysik darf nicht als ein Element unter anderen, sondern muß als dasjenige gesehen werden, aus dem alle anderen hervorgehen. Spirituelle Verwirklichung besteht im Erlangen metaphysischer Erkenntnis, wodurch der Mensch gleichsam in die Metaphysik transformiert wird.

Unabdingbare Voraussetzung für diese Transformation ist neben der theoretischen Vorbereitung die Konzentration, die den Rückzug aus der Vielfalt in die Einheit einleitet.

Guénon beschreibt die Etappen der metaphysischen Verwirklichung: „Die erste ... besteht in einer endlosen Ausdehnung der Individualität, deren körperliche Modalität, die einzige, die beim gewöhnlichen Menschen ausgebildet ist, nur einen minimalen Teil darstellt“. 30) Ziel des Erlangens einer vollständigen Individualität (individualité intégrale) ist das Erreichen des ursprünglichen menschlichen Zustandes, des „état primordial“, der, wenngleich noch in keiner Weise überindividuell (supraindividuel), doch von der Zeit befreit ist, und „ ... bewußt eine Fähigkeit besitzt, die dem gewöhnlichen Menschen ganz unbekannt ist, die man den „Sinn der Ewigkeit“ nennen kann.“ 31)

Im Prinzip betrachtet sind alle Stufen des Seins gleichzeitig, der Sinn der Ewigkeit vermittelt den Einstieg in diese Einsicht: „ ... wer nicht imstande ist sich freizumachen vom Gesichtspunkt der zeitlichen Aufeinanderfolge und alle Dinge simultan anzuschauen, der ist unfähig zu irgendeiner Vorstellung der metaphysischen Ordnung.“ 32)

Auf der zweiten Stufe der metaphysischen Verwirklichung, der überindividuellen, aber noch bedingten, ist die Welt der Formen im weitesten Sinn, die alle individuellen Stufen umfaßt, überschritten. Aber: „Wie weit auch diese Stufen über der menschlichen Stufe sein mögen, ... ihr Besitz ... darf nicht mit dem letzten Ziel der metaphysischen Verwirklichung verwechselt werden: ... der absolut bedingungsfreien Stufe, die von jeder Begrenzung befreit ist ... Die Erlangung dieser Stufe ist, was die Hindu-Lehre die „Befreiung“ („Délivrance“) nennt ...“ 33)

Auf dieser Stufe ist keine Vernichtung, sondern der höchste Grad von Erfüllung: „ ... weit entfernt davon eine Art von Vernichtung (anéantissement) zu sein ... ist diese Endstufe im Gegenteil die absolute Fülle, die höchste Realität, der gegenüber alles Übrige nur Illusion ist.“ 34)

Infolge des überzeitlichen Charakters der Metaphysik ist der Zugang zu ihr grundsätzlich immer möglich: „Metaphysische Erkenntnis und die Verwirklichung, die sie impliziert ... sind daher zumindest im Prinzip überall und immer möglich.“ 35) Hinsichtlich der praktischen Durchführbarkeit in der Gegenwart war Guénon skeptischer: „Es kann spezifisch ungünstige Bedingungen geben, wie sie etwa die  westliche Welt der Gegenwart bietet, so ungünstige, daß eine solche Arbeit fast unmöglich ist ...“ 36) Hingegen sind traditionelle Kulturen so strukturiert, daß sie auch institutionell auf den spirituellen Weg hinweisen: „ ... die Zivilisationen, die wir traditionell nennen, sind so eingerichtet, daß man dort wirksame Hilfe finden kann, die zweifellos ebensowenig strikt unabdingbar ist, wie alles andere, was äußerlich ist, ohne die es aber doch schwierig ist, effektive Resultate zu bekommen.“ 37)

 

Symbolik

Schon in seinem frühesten Buch „Introduction Générale à l’Étude des Doctrines Hindoues“ (Allgemeine Einführung in das  Studium der indischen Lehren) bezeichnet Guénon die Symbolik als „ ... metaphysische Sprache par excellence“. 38) Er versteht unter Symbol jede formgebundene Ausdrucksweise einer Lehre - verbaler, figurativer oder sonorer Art. Da die menschliche Natur nicht rein intellektueller Beschaffenheit ist, bedarf sie einer sinnlichen Unterstützung, um sich in höhere Bereiche erheben zu können, eine reine Intelligenz würde keine äußerliche Form brauchen.

Guénon bezieht Sprache und  Symbol aufeinander und hebt sie voneinander ab: „Im Allgemeinen ist die  Form der Sprache analytisch, „diskursiv“, wie die menschliche Vernunft, ... der Symbolismus ... ist wesensmäßig synthetisch und ...  intuitiv ... was ihn für die Unterstützung der „intellektuellen Intuition“ geeigneter macht als die Sprache.“ 39) Wenn man Sprache und Symbol vergleicht, so liegt die Überlegenheit eher auf seiten des Symbols: „ ... das wirklich unbegrenzte Möglichkeiten der Vorstellung eröffnet, während die Sprache, deren Bedeutungen eher definiert  und gehemmt sind, dem Verständnis mehr oder weniger enge Grenzen zieht ... die höchsten Wahrheiten, die auf keine andere Art mitteilbar oder übertragbar wären, werden es bis zu einem gewissen Grad, wenn sie ... in Symbole einverleibt sind, die sie zwar für viele verbergen werden, aber die sie in ihrem ganzen Glanz in den Augen jener erscheinen lassen werden, die zu sehen vermögen.“ 40)

Grundlage der Symbolik ist die Entsprechung (correspondance), die zwischen allen Bereichen der Realität (den Stufen des Seins und den Zuständen des Wesens) besteht. Die Ordnung des Kosmos ist ein Symbol der übernatürlichen Ordnung. 41)

Wie die Metaphysik ist auch der Symbolismus göttlichen Ursprungs: „ ... die ganze Natur kann als ein Symbol der übernatürlichen Wirklichkeit genommen werden ... Das Niedrigere kann das Höhere symbolisieren, aber das Umgekehrte ist unmöglich.“ 42)

Das Kreuz ist ein archaisches Symbol, das fast überall vorkommt.  Die Mehrzahl traditioneller Lehren symbolisieren die Verwirklichung des Allmenschen durch das Zeichen des Kreuzes.  43)

Der Allmensch verkörpert die Analogie zwischen der universalen  Manifestation und ihrer menschlich-individuellen Modalität, zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos. 44)

Die horizontale Achse des Kreuzes repräsentiert die Ausdehnung der Individualität als Grundlage der Verwirklichung, während die vertikale Achse die endlose Hierarchie der Seinsstufen darstellt. 45)

Der volle kosmologische und metaphysische Sinn des Kreuzsymbols wird offenbar im dreidimensionalen Kreuz, welches Guénon in der  Sprache der astronomischen Symbolik so beschreibt: „ ... es ist einerseits die Ebene des (Himmels-) Äquators und die Achse, welche die Pole verbindet und senkrecht zu dieser Ebene steht und andererseits sind es die zwei Verbindungslinien zwischen den beiden Solstitialpunkten und den beiden Äquinoktialpunkten  –  im ersten Fall haben wir ... das vertikale Kreuz, im zweiten Fall das horizontale  Kreuz. Die Gesamtheit dieser beiden Kreuze, die das gleiche Zentrum haben, bildet das dreidimensionale Kreuz. Seine Arme gehen in die sechs Richtungen des Raumes.“ 46) Diese Richtungen entsprechen den sechs Kardinalpunkten (Solstitialpunkte, Äquinoktialpunkte, Zenith und Nadir), zusammen mit dem Zentrum ergibt sich die Siebenzahl. 47) Diesen sieben Gegenden des Raumes entsprechen sieben zeitliche Kreisläufe. Der siebente ist die Phase der Rückkehr zum Urpunkt, dem Mittelpunkt.  Für diese Phasen verwendet Guénon aus der indischen Überlieferung die Bezeichnung Manvantara.  Jedes Manvantara ist in vier Yugas eingeteilt. 48) Die Kreisläufe entsprechen den Stufen des Seins, jeder sekundäre Zyklus wiederholt auf niedrigerer Stufe die entsprechenden Phasen des Größeren, dem er untergeordnet ist. 49)

Diese Entsprechungen kennt auch das frühe Christentum. Nach Clemens Alexandrinus gehen von Gott als dem Herzen des Universums die endlosen Ausdehnungen aus: die eine richtet sich nach oben, die andere nach unten, diese nach rechts, jene nach links,  die eine nach vorne, die andere nach hinten: „ ... in ihm (Gott) vollenden sich die sechs Phasen der Zeit und von ihm empfangen sie ihre endlose Ausdehnung: das ist das Geheimnis der Zahl sieben.“ 50)

Das dreidimensionale Kreuz bildet, in der Sprache der  Geometrie ausgedrückt, ein Koordinatensystem, auf das der ganze Raum bezogen werden kann; der Raum symbolisiert hier die Gesamtheit aller Möglichkeiten, sowohl eines jeden einzelnen Wesens, wie der ganzen Welt. „Dieses System wird von drei Achsen gebildet, eine vertikal und die zwei anderen horizontal, die drei rechtwinkelige Durchmesser einer endlosen Kugel sind und die ... als auf die sechs Kardinalpunkte ausgerichtet betrachtet werden können.“ 51)

Um die Idee der Ganzheit zu versinnbildlichen muß die Kugel „ ... endlos sein wie die Achsen, die das Kreuz bilden und die drei rechtwinkelige Durchmesser dieser Kugel sind; ... die Kugel wird aufgebaut durch die Ausstrahlung ihres Zentrums und schließt sich nie.“ 52)

Innerhalb dieses Koordinatensystems erfolgt der Sprung des  Menschen in die Befreiung. „Um sich vollständig zu verwirklichen, muß das Wesen sich von der Kette der Kreisläufe befreien und von der Peripherie in das Zentrum gelangen, in den Punkt, in dem die senkrechte Achse auf den horizontalen Plan trifft, auf den Zustand, in dem dieses Wesen sich gegenwärtig befindet ... zwischen allen Stufen des Seins, betrachtet in ihrem zyklischen Lauf, besteht Kontinuität: im Gegensatz dazu bedeutet es eine Unterbrechung in der Entwicklung eines Wesens, wenn es das Zentrum erreicht.“ 53) Diese unveränderliche Mitte ist der feste, unwandelbare Punkt, der die Bewegung antreibt, ohne sich an ihr zu beteiligen.

In der christlichen Tradition ist das Kreuz exoterisch das wichtigste Symbol, aber auch hier ist die metaphysische und archaische Symbolik grundlegend. „Das Kreuz Christi nimmt immer den zentralen Platz ein, der dem „Lebensbaum“ zukommt; wenn es zwischen Sonne und Mond gestellt wird, wie man es oft auf alten Abbildungen sieht, ... ist es wahrhaft die „Achse der Welt“.“ 54)

Die Aussage des Evangeliums, Christus als Wort sei in Bezug auf uns der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh., 14, 6), ist im dreidimensionalen Kreuz ausgedrückt. Der Weg wird durch die vertikale Achse dargestellt. Von den beiden horizontalen Achsen versinnbildlicht die eine die Wahrheit, die andere das Leben. Während der Weg sich auf den Allmenschen bezieht, bezieht sich die Wahrheit hier auf den geistigen  und das Leben auf den körperlichen Menschen (die letztgenannte Bezeichnung kann auch eine gewisse Sinnverschiebung erfahren). Der geistige und der körperliche Mensch gehören beide derselben Daseinsstufe an, der erste als vollständige Individualität, der zweite als eine Modalität derselben. 55)

 

Tradition

Guénons Schrift „Le Roi du Monde“ (Der König der Welt)  –  eine seiner bekannteren und leichter zugänglichen - ist Darlegung der integralen Tradition und Anwendung metaphysischer Prinzipien auf Kosmologie und Geschichtstheorie. „König der Welt“ bedeutet vor jeder geschichtlichen Lokalisierung „ ... ein Prinzip, die kosmische Intelligenz ... (das) sich in einem geistigen, in der irdischen Welt bestehenden Zentrum manifestieren kann, in einer Organisation, deren Aufgabe es ist, die geistige, in ihrem Ursprung nicht menschliche Tradition unversehrt zu bewahren.“ 56) „Die Mitte, um die es sich handelt, ist der feste Punkt, den alle Überlieferungen übereinstimmend symbolisch den „Pol“ nennen, da sich um ihn die Kreisbewegung der Welt vollzieht ...“ 57)

In der Geschichte steht der König der Welt für den ursprünglichen Zustand der Einheit von Priester und König, den in der christlichen Überlieferung Melchisedek und die drei Magierkönige repräsentieren. Die Teilung der Funktionen in Papsttum und Kaiserreich ist „ ... Zeichen einer ... von oben her unvollkommenen Gestaltung.“ 58)

Guénon versteht Tradition als metaphysische, universelle und esoterische Überlieferung: „ ... wenn man überall solche Übereinstimmungen findet, ist das nicht mehr als ein einfacher Anhaltspunkt für die Existenz einer Urtradition? (tradition primordiale) ... Im Übrigen genügt es, ein wenig zu suchen ... um von allen Seiten die Spuren dieser wesentlichen Einheit der Lehre zu entdecken, deren Bewußtsein sich manchmal in der Menschheit verdunkeln konnte, aber niemals gänzlich verschwunden ist.“ 59)

Er läßt keinen Zweifel daran, daß das Kriterium für die Bezeichnung Tradition der Bezug auf das Übernatürliche, Metaphysische ist und eine nur menschliche Überlieferung nicht Tradition genannt werden darf: „Es gibt nichts wahrhaft Traditionelles und es kann es auch gar nicht geben, das nicht ein Element aus der Ordnung des Übermenschlichen mit einbegreift. Das ist in der Tat der wesentliche Punkt, der die Definition von Tradition ausmacht und alles dessen, was sich daran anschließt.“ 60)

Die für Guénons Auffassung der Tradition sehr wichtige Unterscheidung von Esoterik und Exoterik findet sich schon in seinem 1925 erschienenen Werk „Introduction Générale à l'Étude des Doctrines Hindoues“. Wir müssen zu „Esoterik“ alle Assoziationen abstoßen, die sich auf Grund des zeitgenössischen Mißbrauchs dieses Begriffes etwa durch die New Age Bewegung einstellen. Guénon geht von der griechischen Antike aus: „Die Exoterik beinhaltet das Elementare, leichter Verständliche ... (und) findet ihren Ausdruck nur in der schriftlichen Lehre, ... die Esoterik, vertiefter und einer gehobenen Ordnung angehörend ... war ausschließlich Gegenstand mündlicher Unterweisung ... (es handelt sich aber) um die gleiche Lehre unter zwei verschiedenen Aspekten.“ 61) In jeder metaphysischen Doktrin gibt es etwas, das immer esoterisch bleibt,  „ ... der Teil des Unausdrückbaren, ... den jede wahrhaft metaphysische Konzeption enthält.“ 62)  Von den großen Traditionen ist die indische diejenige bei der es „ ... am wenigsten möglich ist, eine Unterscheidung wie die zwischen Esoterik und Exoterik ins Auge zu fassen, weil die Tradition dort zuviel Einheit hat... Die einzige Unterscheidung, die man dort treffen kann, ist die zwischen der wesentlichen Lehre, die zur Gänze Metaphysik ist, und ihren Anwendungen ...“ 63)

Der Unterscheidung Exoterik - Esoterik entspricht bei Guénon die Unterscheidung Religion - Metaphysik: Religion, der jedem zugängliche Weg der kultischen Verehrung, führt zum Heil (salut), Metaphysik führt durch die Identifikation mit der Gottheit zu Befreiung (Délivrance). 64)

           

Spirituelle Verwirklichung, Initiation

Ich darf Sie daran erinnern, daß Guénon in „La Métaphysique Orientale“ die „Identifikation durch die Erkenntnis ..." als Prinzip jeder metaphysischen Verwirklichung bezeichnet hatte.65) Während Guénon bis etwa 1930 nicht viel über  Initiation geschrieben hatte, insistierte er von diesem Zeitpunkt an, nicht auf einer prinzipiellen, wohl aber auf der faktischen Notwendigkeit: „... die Notwendigkeit des initiatischen Anschlusses (d.h. des Anschlusses an eine initiatische Kette. Der Übersetzer) ist keine prinzipielle, sondern nur eine faktische Notwendigkeit, die sich aber nichtsdestoweniger streng auferlegt auf der Stufe, auf der wir uns  befinden ... für die Menschen der ursprünglichen Zeiten wäre die Initiation unnötig und sogar unvorstellbar gewesen.“ 66) Eine Initiation nur durch Lektüre ist unmöglich: „ ... eine mündliche Übertragung wird überall und immer als eine notwendige Bedingung wahrer traditionaler Unterweisung angesehen ... und das, weil die Übertragung, um wirklich gültig zu sein, der Übermittlung eines gewissermaßen „vitalen“ Elementes bedarf, das Bücher nicht übertragen können.“ 67) Die adäquate Vermittlung von Metaphysik ist direkt von Guru oder zumindest Lehrer zu Schüler - durch die Rede oder durch Symbole - ein ganzheitlicher, den Menschen grobstofflich, feinstofflich und spirituell umfassender Vorgang.

Vom spirituellen Meister meint Guénon: „... der menschliche Guru ist in Wahrheit ... nur eine äußere Erscheinung ... des wahren, inneren Guru, so daß seine Notwendigkeit nur daher kommt, daß der Initiierte, solange er nicht zu einem gewissen Grad der spirituellen Entwicklung gelangt ist, noch unfähig ist, direkt in bewußte Verbindung mit diesem zu treten.“ 68)

 

Kritik an der modernen Welt

René Alleau betitelte seinen Beitrag zur Gedenkschrift für René Guénon in den Dossiers H (1984) „De Marx à Guénon: d’une critique radicale à une critique principielle des sociétés modernes“  (Von Marx zu Guénon: von einer radikalen  zu einer prinzipiellen Kritik der  modernen Gesellschaften).69) Auf Grund der ins Materialistische gewendeten Hegelschen Dialektik sieht Marx in der Gesellschaft seiner Zeit ein notwendiges Produkt des sozialen Fortschritts und die Entfremdung als Motor der Transformation in die klassenlose Gesellschaft; für Guénon, der an metaphysischen, überzeitlichen Prinzipien mißt, ist das Kriterium der Normalität einer Gesellschaft, in wie weit der Vorrang des Spirituellen gewahrt ist, institutionell drückt sich diese Wahrung in einer Rangordnung aus, die der Symbolik der indischen Kasten entspricht. Umsturz und Vermischung der - wohlgemerkt immer spirituell geprägten - Rangordnung ist für Guénon der Ausdruck zunehmender Materialisierung eines absteigenden Zyklus. Seine Kritik der Moderne unterscheidet sich von der Postmoderne wie vom Geschichtspessimusmus.

Im Vorwort seiner wichtigsten Schrift zu diesem Thema „Le Règne de la Quantité et les Signes du Temps“ (Die Herrschaft der Quantität und die Zeichen der Zeit) setzt Guénon sich von jeder Kritik ab, die am Phänomenalen haftet: „... Überlegungen dieser Art haben für uns nur insoferne Wert, als sie eine Anwendung der Prinzipien auf besondere Umstände darstellen ... alles was existiert, ... sogar der Irrtum hat notwendigerweise seine Daseinsberechtigung und die Unordnung selbst muß am Ende ihren Platz unter den Elementen der universellen Ordnung finden. Wenn also auch die moderne Welt, für sich selbst betrachtet, eine Anomalie ist und sogar eine Art von Monstrosität, so ist nicht weniger wahr, daß sie im gesamthistorischen Zyklus, dessen Teil sie ist, genau den Bedingungen einer bestimmten Phase entspricht, die die indische Tradition Kali-Yuga nennt.“ 70) Das Kali-Yuga ist das letzte Yuga des gegenwärtigen Manvantara. Es hat schon lange vor Christi Geburt begonnen.

Guénon  warnt  vor dem  Versuch der  historisch festlegenden  Prognose:

„... wäre es nicht unvorsichtig, genauer präzisieren zu wollen und führte das nicht zu dieser Art Voraussagen, denen die traditionelle Lehre, nicht ohne ernste Gründe, soviel Widerstand entgegengesetzt hat?“ 71)

Die sogenannte Moderne ist die Endphase des Kali-Yuga. Den Anfang der Moderne lokalisiert  Guénon schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts  –  mit dem  entscheidenden  Ereignis  der  Vernichtung  des  Templerordens,

„... (das) für den Westen die Unterbrechung der regelmäßigen Beziehungen zum Mittelpunkt der Welt mit sich gebracht hat.“ 72)  Es ist eine Revolte der Kshatriyas (repräsentiert durch König Philipp den Schönen) gegen den geistlichen Orden, der teilweise Vermittler war zwischen dem, was im Abendland Brahmanen und Kshatriyas entsprach, teilweise in direkter Verbindung  mit der gemeinsamen Quelle der spirituellen und weltlichen Macht stand. 73) Damit kam der charakteristische Ablauf eines zyklischen Abstiegs in Gang: der Aufstand der jeweils niedrigeren Kaste gegen die höhere, der mit totaler Vermischung und totaler Nivellierung endet.

Eines der wichtigsten Charakteristika der Moderne ist die Tendenz, alles auf den Gesichtspunkt der Quantität zu reduzieren. Die Modernisierung des Abendlandes, die es auch den anderen Völkern aufzwingt, beruht nur auf materieller Überlegenheit und kommt einer Ausdehnung der Herrschaft der Quantität gleich.  Individualismus und Uniformität stehen im Gegensatz zu Einheit.  Im neuzeitlichen Christentum rückte, vom Protestantismus eingeleitet, die Moral zunehmend anstelle der Metaphysik. Rationalismus, Materialismus und Mechanismus führten zu dem, was Guénon die Verfestigung (solidification) der Welt nennt. Sie ist Voraussetzung für die Industrialisierung. Gleichzeitig wird in wachsendem Maß eine entgegengesetzte Tendenz zur Auflösung manifest, die nur die niedrigen Kräfte entfesseln kann, die das Werk der Unordnung und Zerstörung zu Ende führen.74) Guénon schildert die Wechselwirkung zwischen Materialismus und irrationaler Pseudospiritualität anhanden einiger Zeiterscheinungen und ist besonders hart im Urteil über die Psychoanalyse: die Lehranalyse ist eine Pseudoinitiation, die Psychoanalyse als ganze zeigt „... eine erschreckende Ähnlichkeit mit gewissen Sakramenten des Teufels.“ 75) Die Verwechslung des Psychischen  und des Spitituellen führt zu einer verkehrten Spiritualität, die nur die Parodie der Spiritualität ist. 76)

Die Geschichte folgt kosmischen Gesetzen, die Abbild der metaphysischen sind und denen entsprechend die Rückkehr aus der Vielfalt zur Einheit erfolgen muß: „... unter dem besonderen Gesichtspunkt dessen, was (am Ende des Zyklus) zerstört wird, weil seine Manifestation beendet und gleichsam erschöpft ist, ist dieses  Ende natürlich katastrophal ... aber ... unter dem Gesichtspunkt, daß die Manifestation, indem sie auf diese Art verschwindet, in ihren Ursprung zurückgeführt wird ...  erscheint dieses Ende als eine Wiederbelebung, durch die ... alle Dinge mit einem Schlag in ihrem Urzustand (état primordial) wiederhergestellt sind.“ 77)

René Jean-Marie Joseph Guénon ist am 15. November 1886 in Blois als Sohn eines Architekten geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie und unterrichtete zeitweise an Mittelschulen. Schon früh wurde ihm die Suche nach metaphysischen Wahrheiten und spiritueller Erfahrung zum allein Wichtigen. Nachdem er sich in seiner Jugend neognostischen Gruppen angeschlossen hatte, die er später ohne Einschränkung verurteilte, lebte er jahrelang im Rahmen des Katholizismus und schrieb in katholischen Zeitschriften, vor allem über Symbolik. Die Ablehnung von Seiten der damals herrschenden philosophischen Schule des Neothomismus, besonders des wachsend einflußreichen Jacques Maritain, war sicher daran beteiligt, daß er die Hoffnung auf eine Wiedergeburt der Tradition innerhalb des westlichen Christentums verloren haben dürfte.

1912 empfing Guénon  –  wie er erst sehr viel später bekanntgab  –  die Initiation in die Sufi-Tarikat Shadiliya, Einweihungen in indische und chinesische Lehren dürfte er schon früher erlangt haben, darüber gibt es keine konkreten Aussagen. 1930 fuhr er nach Kairo (seine erste Reise in den Orient), um nach Sufitexten zu suchen. Er verließ Ägypten während der restlichen einundzwanzig Jahre seines Lebens nicht mehr. 1934 heiratete der zum Scheich Abdel Wahid Yahia gewordene Guénon eine erheblich jüngere Ägypterin (die Partnerin seiner ersten, katholischen und kinderlosen Ehe war vor seiner Abreise gestorben) und wurde viermal Vater. Sein jüngstes Kind kam erst nach Guénons Tod auf die Welt. Die Mitarbeit an Zeitschriften, besonders den „Études Traditionelles“ und sein umfangreicher Briefwechsel kosteten viel Zeit und Kraft. Die postlose Zeit des zweiten Weltkrieges war für ihn erholsam  –  er konnte einige Bücher fertigstellen, die er schon seit langem vorbereitet hatte. René Guénon, der Scheich Abdel Wahid Yahya, starb 64-jährig am 7. Jänner 1951.

Erschienen in: Paulus Wall (Hrsg.) Leopold Ziegler – Weltzerfall und Menschwerdung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001. S.169 – 191